Warum glauben Ausländer, dass in allen russischen Städten Bären durch die Straßen streifen?

Eine Umfrage unter Touristen, die Russland während der FIFA-Weltmeisterschaft 2018 besuchten, zeigte die anhaltende Verbreitung dreier gängiger Stereotype über das russische Leben: Das Militär regiert das Land, Wodka gehört zu jeder Mahlzeit, und Bären streifen frei durch die Straßen. Das letzte Stereotyp ist am tiefsten verwurzelt, doch seine Verbreitung lässt sich von Historikern leicht erklären.

Das Buch des österreichischen Diplomaten ist schuld.

Bis zum frühen 16. Jahrhundert blieb Moskau für die Völker des Westens und Europas ein geheimnisvolles Land. Das Wissen der gebildeten Öffentlichkeit über das russische Leben speiste sich aus den Berichten und Aufzeichnungen von Kaufleuten, Reisenden und Diplomaten. Die Informationen waren bruchstückhaft und widersprüchlich. Das erste Buch, das Geographie, politische Strukturen, religiöse Überzeugungen und den Alltag der Moskauer beschrieb, „Rerum Moscoviticarum Commentarii“ oder „Anmerkungen zu Moskau“, erschien 1549 in Wien. Es entwickelte sich in der Folge zu einer Art europäischer Enzyklopädie der Rus für Diplomaten auf ihren Gesandtschaften in den Osten, und sein Autor, der österreichische Baron und Diplomat Sigismund von Herberstein, erlangte als „Kolumbus Russlands“ Berühmtheit.

In seinen „Aufzeichnungen“ beschreibt Herberstein seine Eindrücke von einer Winterreise durch Moskau im Jahr 1526 und schildert die harten Wetterbedingungen, denen selbst die einheimische Bevölkerung nicht standhalten konnte. Der Diplomat berichtet, dass die Kälte in jenem Jahr so ​​extrem war, dass viele Kutscher erfroren in ihren Wagen gefunden wurden. Kälte und Hunger trieben Bären aus den Wäldern, die daraufhin Dörfer angriffen. Laut Herberstein rannten die Bären „überall herum“ und brachen in Häuser ein. Bauern flohen vor den wilden Tieren aus ihren Dörfern und starben an der Kälte – „einen höchst elenden Tod“.

Die Memoiren des österreichischen Botschafters enthalten mehrere weitere Beschreibungen von Begegnungen mit Bären. Er erwähnt Landstreicher, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, „zum Tanzen dressierte“ Bären durch Dörfer zu führen. Er berichtet von den Vergnügungen des Großherzogs, der Bären in einem eigens dafür eingerichteten Haus für Kämpfe hielt, an denen auch Männer niedrigen Standes teilnahmen. Er erzählt eine Anekdote über einen Bauern, der in einen hohlen Baum kletterte, um Honig zu holen, und dort stecken blieb. Zum Glück begann der Bär, der wegen der Walddelikatesse gekommen war, in den Baum zu klettern, woraufhin der unglückliche Bär ihn packte und so laut schrie, dass das erschrockene Tier aus dem Baum sprang, den Bauern mit sich riss und dann panisch floh.

Ob all diese Ereignisse genau so stattgefunden haben, wie der Autor sie beschreibt, lässt sich schwer sagen. Doch für Europäer galt sein Werk lange als anerkannte Autorität in allen Fragen rund um Moskau. Es wurde von österreichischen, deutschen und italienischen Gelehrten und Forschern zitiert. Das Buch selbst, „Rerum Moscoviticarum Commentarii“, wurde im 16. Jahrhundert 14 Mal in deutscher, lateinischer, italienischer und englischer Sprache neu aufgelegt. Infolgedessen wurde das Auftreten von Bären in Winterdörfern als regelmäßiges Phänomen und charakteristisch für ganz Moskau angesehen.

Die Künstler tragen die Schuld

Auch mittelalterliche Kartographen trugen zur Stärkung und Verbreitung des Stereotyps von „Bären, die frei in Siedlungen umherstreifen“ bei.

Die erste Abbildung eines Bären auf einer Karte des Moskauer Fürstentums findet sich auf Antonius Wieds Karte, die er eigens für Herberstein anfertigte. Die Vignette zeigt Männer, die in der Nähe des Onegasees einen Bären mit Speeren fangen. Die Karte wurde 1546 veröffentlicht und später sechsmal als Teil von Münsters „Cosmographia“ neu aufgelegt.

Vidas Werk hatte einen starken Einfluss auf die mittelalterliche Kartografie, und das Bild des Bären wurde auf späteren ausländischen Karten Moskaus traditionell dargestellt. Man kann sagen, dass der Bär dank Vida zum Symbol des Moskauer Fürstentums und später Russlands wurde.

Auch auf der Karte von Olav Magnus sind Abbildungen eines Bären zu sehen, und Francoeur stellte bei der Erstellung einer Karte der Insel Mestny und der Jugorsker Scharstraße einen Bärenangriff auf ein Mitglied der Expedition, V. Barents, dar.

Bärenspaß ist schuld

Die weit verbreiteten „Bärenattraktionen“ haben dazu beigetragen, das Stereotyp von Bären, die in Russland neben Menschen leben, aufrechtzuerhalten.

In Russland war die sogenannte „Bärenkomödie“ seit der Antike ein beliebter Zeitvertreib. Es handelte sich um eine Zirkusvorstellung mit Bären, aufgeführt von reisenden Künstlern. Zur Truppe gehörten in der Regel ein Bärenführer (der je nach Region unterschiedliche Namen trug – „Anführer“, „Führer“ oder „Bärenzieher“), ein dressierter Bär, ein als Ziege verkleideter Tanzjunge und ein Trommler. Der Ausdruck „pensionierter Ziegentrommler“, der so viel wie „wertloser Mensch“ bedeutet, stammt übrigens aus der Zeit der Bärenkomödien. Der Musiker wurde vom Publikum oft als überflüssig für die Aufführung angesehen.

Neben Komödien wurden Bären in der Rus auch häufig für Bärenkämpfe und -hetzen eingesetzt. Bärenshows erfreuten sich weniger beim einfachen Volk als vielmehr beim Adel großer Beliebtheit. Sie wurden im Kreml, am Hofe des Zarenborisow, in Landpalästen und in Hundezwingern veranstaltet.

Bärenkämpfe galten ebenfalls als königlicher Zeitvertreib. Iwan der Schreckliche war ihnen besonders zugetan. An seinem Hof ​​hielt man zahme oder dressierte Bären, sogenannte Rennbären oder Halbwildbären, und auch wilde Bären, die direkt aus dem Wald zur Unterhaltung geholt wurden. Unter Iwan jagten diese Spiele ausländischen Botschaftern Angst ein; so berichtete beispielsweise Albert Schlichting, dass während eines Bojarenprozesses ein Bär einen der Kläger brutal zerfleischte.

Es ist auch bekannt, dass bei der Eroberung von Kasan eine Abteilung von 20 speziell ausgebildeten Bären an der Seite Iwans des Schrecklichen kämpfte. Bären wurden auch als Einschüchterungstruppen eingesetzt, um Festungsmauern schnell niederzureißen oder Verwüstung anzurichten. Daher stammt der Ausdruck „eine Ungerechtigkeit“.

Hinweise auf „Bärenspiele“ haben sich in der russischen Literatur erhalten. In seiner Erzählung „Dubrovsky“ beschreibt Puschkin die grausamen Spiele des Adligen Troekurov, der sich damit vergnügte, Bären auf seine Gäste zu hetzen.

Verschiedene Formen der Bärenunterhaltung gehörten bis 1866 zum russischen Alltag, bis ein entsprechendes Dekret erlassen wurde, das sie verbot. Fünf Jahre wurden für die endgültige Einstellung des Bärenhandels festgelegt. Tausende zahme Bären wurden daraufhin landesweit getötet. Laut Dekret waren die Besitzer der dressierten Tiere verpflichtet, diese selbst zu töten.

Ausländer, die nach Moskau und später ins Russische Reich kamen, wurden natürlich Zeugen von Zirkusvorstellungen, Kämpfen und Tierhetzen. Die weitverbreitete Unterhaltung und die darüber erzählten Geschichten trugen auch zur Verbreitung von Legenden über „Bären auf den Straßen“ in Russland bei.

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